Was heißt heute Reformation? Vortrag Landesbischof

Fromm und fröhlich auf dem Weg des Friedens und der Versöhnung

Vortrag beim 70. Bühler Zwetschgenfest am 10.9. um 11 Uhr in Bühl

 

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger aus Villefranche-sur-Saone, meine sehr verehrten Damen und Herrn,

ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Einladung zum 70. Bühler Zwetschgenfest. Sie feiern ein Fest des Dankes, der Lebensfreude und der Gemeinschaft. Das passt gut zu dem Thema, das ich mitbringe: Was bedeutet Reformation heute?

Wir feiern in diesem Jahr auch 500 Jahre Reformation. Nach meinem Eindruck gelingt das Feiern an vielen Orten schon ganz gut: mit vielen Festen, Gesprächen und besonderen Gottesdiensten; wir sind aber gerne bereit, heute von Ihnen, lieber Herr Oberbürgermeister, noch mehr übers Feiern zu lernen. Zwetschgen sind dafür auf jeden Fall hilfreich, in welcher Form auch immer: frisch vom Baum zum Essen, als Mus, in gebrannter Form oder gesotten – so soll Luthers Käthe sie im Weihnachtsbraten mit Birkhühnern verarbeitet haben.

Gestatten Sie mir noch eine Vorbemerkung: Wir feiern das Reformationsjubiläum in diesem Jahr zum ersten Mal nicht gegen-, sondern miteinander. Nicht wie 1817 gegen die Katholiken, nicht wie 1917 gegen die Franzosen, nicht wie Luthers 500. Geburtstag 1983 im Wettstreit zwischen Ost und West, nach dem Motto: Wem gehört Martin, dem Arbeiterstaat oder der Kirche? Wir feiern endlich gemeinsam mit unseren Geschwistern in der Erzdiözese Freiburg, über die Grenze weg mit unseren Freundinnen und Freunden im Elsass und mit vielen anderen: ökumenisch, europäisch, international.

Die Reformation hat im 16. und 17. Jahrhundert schreckliche Spaltungen, Abgrenzungen und Kriege mit sich gebracht; ihr Ziel war aber eigentlich eine Erneuerung der Kirche im Geist Christi, der uns gerade in unserer Unterschiedlichkeit verbindet – und der darauf hofft, dass wir uns weiter aufeinander zu bewegen. Die diesjährigen Feiern nehmen diese verbindende Bewegung Gottes gut auf.

 

Was heißt heute Reformation?

Mit drei Sätzen möchte ich auf die Frage antworten:

  1. Reformation heißt Teilhabe an der Bewegung Gottes in der Welt.
  2. Reformation ruft in die Verantwortung für Versöhnung und Frieden.
  3. Reformation lässt Menschen fröhlich miteinander feiern.

 

  • Reformation heißt Teilhabe an der Bewegung Gottes in der Welt. Wichtig ist: Der Schwung geht von Gott aus; die Gottesbewegung reißt uns mit. Entscheidend ist nicht, was wir tun; entscheidend ist, was Gott für uns tut: Gott richtet uns auf. Gott traut uns etwas zu. Gott macht uns mutig und frei. Das neue Leben beginnt mit der Erneuerung des ganzen Menschen; alles andere ergibt sich von selbst. Das war die provokante These Luthers gegen alle Verkrampfung, die der Moralismus, der Fundamentalismus und all die Zwangsmaßnahmen mit sich bringen, die sagen: „Du musst so sein!“, „Wenn du nicht, dann ….“ „Sei so, wie wir das wollen!“ „Ein schlechter Baum trägt keine gute Frucht. Ein guter Baum trägt keine schlechte Frucht. Denn es ist offenkundig, dass nicht die Früchte den Baum tragen, auch die Bäume nicht auf den Früchten wachsen, sondern umgekehrt: Die Bäume tragen die Früchte, und die Früchte wachsen auf den Bäumen. Wie nun die Bäume eher da sein müssen als die Früchte, und … die Bäume die Früchte machen – so muss auch der Mensch in seiner Person zuvor gerecht oder böse sein, ehe er gute oder böse Werke tut.“Die Reformation beginnt mit der Entdeckung: Gottvertrauen macht uns mutig und frei. Es nimmt uns die Angst. Es sagt uns: „Fürchte dich nicht: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst zu mir!“ Im Gottvertrauen werden wir frei davon, immer wieder danach zu fragen: Was sagen die anderen über mich? Finden wir genug Anerkennung? Werde ich meinen Ansprüchen an mich gerecht? Die Freiheit eines Christenmenschen ermöglicht, dass ich für meine Sache einstehe. Dass ich mich etwas traue, weil ich spüre, Gott traut mir etwas zu, beruft mich und mutet mir auch etwas zu. Aber zugleich entdecke ich auch meine Grenzen und stelle mich hin und sage: Das habe ich falsch gemacht! Die Reformation hat das Bild vom Menschen in seiner ganzen Größe, aber auch in seiner Doppeldeutigkeit wieder hervorgehoben. Wir werden frei zu handeln und in schwierigen Situationen Verantwortung zu übernehmen, aber wir ahnen auch, wie leicht wir uns auf die andere Seite ziehen lassen und schuldig werden.

 

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    2. Sie kennen die Geschichte vom letzten Abendmahl: Alle sitzen schon am Tisch und essen und trinken. Da sagt Jesus: Einer unter euch wird mich verraten! Und was sagen die anderen am Tisch dann? „Herr, bin ich’s?“ Sie stellen nicht die neugierige Frage, die fast ein bisschen Lust am Schrecken hat und die Schuld beim Anderen sieht: Herr, wer ist’s? Damit wir mit dem Finger auf ihn zeigen können, über ihn tuscheln und das Böse bei den anderen identifizieren. Nein, sie fragen: Herr, bin ich‘s?
    3. Diese Freiheit macht Mut zum Hinstehen: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ Ich fand spannend, dass ich gerade auf dieses Lutherwort bei meinen Schulbesuchen in diesem Jahr immer wieder von Jugendlichen angesprochen worden bin, weil sie darin das große Zutrauen spüren, aber auch den Realismus im Blick auf die eigenen Möglichkeiten und Grenzen.
    4. Das Beispiel leuchtet ein. Die Erneuerung des Lebens beginnt beim Baum, oft gerade da, wo wir es nicht sehen, an den Wurzeln: Wo schlage ich Wurzeln, worauf vertraue ich, was trägt mich, was ermutigt mich, mich zu entfalten? Von manchen Zwetschgenbäumen heißt es, sie hätten Wurzelwerk so groß wie die Krone.
    5. In seiner Schrift über die Freiheit eines Christenmenschen hat Luther ein Gleichnis von Jesu über einen Baum und seine Früchte aufgenommen, um das zu erläutern. Bitte stellen Sie sich zur Feier des Tages gerne einen Zwetschgenbaum vor. Luther schreibt:
    6. Die Reformation war ein Aufbruch. Die Menschen hatten das Gefühl: „Jetzt beginnt etwas Neues. Unser Gottvertrauen ist stärker als unsere Sorgen und unsere Angst vor anderen Menschen, stärker auch als die Angst vor dem Tod.“ Sie ließen sich nicht mehr einschüchtern: „Niemand steht zwischen mir und Gott, auch nicht die Kirche. Christus ist in unsere Welt gekommen: als Mensch – in unser Dorf, in unser Haus, in mein Leben. Wir können neu miteinander leben.“
  • Reformation ruft in die Verantwortung für Versöhnung und Frieden.Was ist damit gemeint?

 

  1. Drei Dinge sind mir wichtig:
  2. Damit bin ich beim zweiten: Erneuerung zeigt sich – so wie an einem Zwetschenbaum im Spätsommer die Früchte dunkel und blau glänzen. Wir sind in allen Dingen freie Menschen, aber zugleich ruft uns Gott in die Verantwortung füreinander und für unsere Erde.
  1. Die Reformation hat alle in die Verantwortung gerufen. Jeder ist an seinem Platz gefragt, jede in ihrer Verantwortung. Nicht nur bei Wahlen, sondern im Alltag: in unseren Familien, in unserem Beruf (Diesel!), in unserem Verein, da sollen sich die Früchte zeigen.
  2. Gerade in diesen Zeiten des Wahlkampfes erleben wir, dass es verschiedene Antworten auf politische Herausforderungen gibt. Die Reformation hat den Menschen eingeschärft: Im weltlichen Fragen gibt es keine einfachen, eindeutigen Lösungen; wer die propagiert, vor dem sollte man sich eher hüten. Das Vertrauen in Gott macht frei, die eigene Vernunft zu gebrauchen und auch der Vernunft der anderen etwas zuzutrauen. Im weltlichen Regiment (Luther) geht es darum, miteinander vernünftig, nachdenklich und offen um den besten Weg zu ringen. Dazu gehört vor allem, sich in die Anderen hineinzuversetzen.
  3. Bei der Suche nach dem besten Weg orientieren wir uns an Jesus Christus. Die biblischen Geschichten erzählen, wie er sich in die hineinversetzt, denen er begegnet. Er achtet besonders auf die, die es schwer haben, die nicht mehr oder noch nicht für sich selbst sorgen können: Sterbende und schwer Kranke, kleine Kinder, Menschen mit Einschränkungen, Menschen, die bedroht oder verfolgt werden. Die Würde dieser besonders verletzlichen Gruppen liegt Christus am Herzen. Wie wir mit ihnen umgehen, daran entscheidet sich, wie menschlich, wie christlich unsere Gesellschaft ist. Diese beiden Orientierungspunkte: an den Schwachen und an der versöhnten, vielfältigen Gemeinschaft haben schon Jesu Freundinnen und Freunde herausgefordert; sie sind ein Stachel im Fleisch unserer Eigeninteressen, für die Mächtigen damals und heute ein echter Skandal: Gott kommt weder im Tempel noch im Palast zur Welt, sondern in der Krippe im Stall; Christus zeigt uns am Kreuz das liebevolle Gesicht Gottes, nicht da, wo wir normalerweise einen Gott erwarten. Jesus schickt uns raus aus der bequemen, warmen Stube vor die Tore der Stadt, wo Menschen auf uns und auf ihn warten. Er fordert uns auf, in Konflikten dazwischen zu treten und Brücken zwischen verfeindeten Lagern zu bauen, denn Versöhnung ist mehr, als der einen oder der anderen Seite Recht zu geben. Das Friedenskreuz weist uns einen Weg in den Herausforderungen, vor denen wir heute stehen: Armut, Hunger und Klimaveränderungen werden durch Militarisierung von Konflikten verschärft und nicht gelöst. Gerade die Christinnen und Christen aus unseren Partnerkirchen im Nahen Osten und etwa in Nigeria ermutigen uns, uns für Frieden und Versöhnung zu engagieren. Frieden kann gelehrt, gelernt und eingeübt werden, von klein auf in Familie, Schule und Medien. Aber dazu müssen wir frei sein und mutig, so wie das jetzt vielleicht auch im Konflikt mit Nordkorea nötig ist: Jesus spricht mit denen, mit denen „man“ eigentlich nicht spricht; aber er findet deshalb nicht richtig, was sie tun!
  4. Das Friedenskreuz auf dem Hügel zwischen Bühl und Ottersweier steht genau für solch einen Weg der Versöhnung. Nach drei Kriegen zwischen Deutschland und Frankreich wurde es aus den Trümmern des Westwalls und der Maginot-Linie bei Bühl errichtet. Es erinnert an die Gräuel, die deutsche Truppen an den Bewohnern des Dorfes Oradour-sur-Glane in der Nähe von Limoges begangen haben; es erinnert an das Kollektivschuld-Gesetz; aber es steht vor allem für das Wunder, dass trotz all dieser Schrecken Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich möglich wurde.
  5. Jesus führt uns in einer Gemeinschaft zusammen, die inklusiv ist: sie sortiert nicht, sie verbindet. Sie kennt die Vielfalt und die Konflikte, aber sie weiß: am Ende gehören wir zusammen, trotz aller religiösen, sozialen und persönlichen Unterschiede. „Da ist nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann noch Frau – ihr seid alle eins in Christus.“ (Gal 3,28) Hier sehe ich eine besondere Verantwortung für uns als Kirche: etwas dafür zu tun, dass unsere Gesellschaft nicht immer stärker in einzelne Segmente zerfällt, die alle mit sich beschäftigt (und oft auch zufrieden) sind und wenig miteinander zu tun haben, sondern Begegnungen zwischen denen zu ermöglichen, die sich normalerweise kaum begegnen.
  • Die reformatorische Erneuerung lässt dankbar miteinander feiern und fröhlich genießen.Irgendwann haben wir genug getan, alles jedenfalls, was wir tun können. Dann müssen wir loslassen und Gott das Weitere anvertrauen. Das gilt nicht nur für den Obstanbau; das gilt auch für die Politik und auch für die reformatorische Erneuerung unserer Kirche. Wir schauen dankbar zurück auf 500 Jahre Reformation; wir ernten Früchte und feiern. Das Lob des Festes hat für die Reformation aber auch einen geistlichen Grund. Denn das Fest unterbricht unser Tun und Machen und zeigt: Unser Leben ist empfangenes Leben. Unser Leben ist begrenztes Leben. Unser Leben ist auf Hoffnung hin angelegt. Im Feiern halten wir inne und erleben: Wir sind getragen und gehören zusammen.

 

  1. Die Erinnerung an die reformatorische Erneuerung lehrt uns, dass nur wer regelmäßig unterbricht, innehält und feiert, nur der versinkt nicht im Einerlei von Arbeiten, Kaufen und sich unterhalten lassen. Nur der behält die Freiheit, die Kraft und den Mut, unterwegs zu sein und die Welt verantwortlich zu gestalten. Weil er oder sie sich immer wieder an seiner Wurzel orientiert, an dem, was den Baum trägt, worauf er vertraut. Genau dazu braucht es die Sonntage und solche Feste wie heute, die unser Planen und Tun unterbrechen und uns innehalten lassen. Sie stärken unser Gottvertrauen und richten uns neu aus, Wege des Friedens zu gehen.
  2. Dass Luther gerne feierte, aß und trank ist kein Geheimnis. Seine Tischreden zeigen, dass er mit seinen Ess- und Trinksprüchen die Tischgesellschaft geistreich unterhalten konnte: „Darf unser Gott gute und große Hechte, auch guten Rheinwein schaffen, so darf ich sie wohl auch essen und trinken.“ So hat er andere mit seiner dankbaren Lebensfreude angesteckt.
  3. Das Bühler Zwetschgenfest ist von seinem Ursprung her ein „Erntedankfest“. Gerade die frühen Zwetschgen waren wichtig für die Region. Erntedank, das heißt, sich bei aller Freude über die eigene Leistung und was alles in diesem Jahr gut gelungen ist, klar zu werden, dass „Wachstum und Gedeihen“ nicht in unserer Hand steht.