Vater, vergib ihnen

Predigt über Lk 23,32-46
Karfreitag 2021 / Johanneskirche Bühl

I

Verwirrung, Chaos, Eitelkeiten, Machtspiele in der Politik; einsames Sterben, Überforderung und Furcht in vielfacher Gestalt; Feigheit und Laufen lassen, Gefälligkeiten und Geschäfte, dunkel mitten am Tag; Offenheit im Allerheiligsten und am Abend Ausgangssperre, weil die Sabbatruhe eingehalten werden muss! – So war das damals. Eine Geschichte, die aus dem Ruder lief, die nicht mal seine Freunde so erwartet hatten oder seine Familie. Und mittendrin Jesus: ohnmächtig, ausgeliefert und bis auf ein paar Worte seltsam passiv. Er tut nichts, wehrt sich nicht, redet wenig. In was für einen „Krieg“ ist er geraten? Und gibt es wirklich am Ende „Frieden“ – Frieden, der ewig hält?

Wie gut, dass Jesus offenbar so laut geredet hat da oben am Kreuz, dass man’s verstehen konnte. Hören wir ihm zu, wenn er uns selber deutet, was damals geschah und was heute geschieht. Drei Sätze sind bei Lukas überliefert: der erste und der letzte ein Gebet zu Gott, dem Vater. Der zweite Satz gehört in jenes schräge Spott- und Streit- und Trostgespräch der Sterbenden am Kreuz.

II

Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun – der erste Satz Jesu am Kreuz. Unglaublich, dass er das so sagt. Denn seine engsten Weggefährten hatten ihn verraten. Seine besten Freunde und Vertrauten hatten Jesus verleugnet und waren abgehauen, als er sie am meisten brauchte: Petrus, Jakobus, Johannes und Judas und die anderen. – Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!

Die hohen Geistlichen, gelehrte, kluge Leute, ernsthaft gläubig, warfen Jesus Gotteslästerung vor. Darauf stand Todesstrafe, und zur Vollstreckung (selber durften sie’s nicht machen) hatten sie Jesus an die Römer ausgeliefert und machten gemeinsame Sache mit ihren Besatzern. – Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!

Und die Römer, mit dem behäbigen Pilatus an der Spitze, bemühten sich noch nicht mal halbherzig um Gerechtigkeit und waren schnell dabei den offenkundig Unschuldigen feige zu entsorgen – den echten Verbrecher und Mörder ließen sie dafür laufen. – Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!

Dazu die vielen Mitläufer: die gehorsamen und sadistischen Soldaten, die anfangs noch jubelnde Menge, die für Jesus ihre Gewänder auf den Weg gebreitet hatte – Hosianna, König – am Ende nahmen sie ihm auch das letzte Kleidungsstück und seine Würde, als Jesus öffentlich ausgestellt wurde im Todeskampf und nackt der Meute ausgeliefert. Dieses Lästern und Nachtreten bei einem, der sowie aufs Kreuz gelegt worden war. – Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!

Oder doch? Denn meistens wissen wir es nur zu gut! Nicht, dass hier Gott gegenwärtig war – wie hätte jemand darauf kommen sollen!? Das hatten ja kaum die besten Freunde oder seine Familie verstanden. Doch davon abgesehen war und ist die Feigheit und die Trägheit und die Gier und die Unbarmherzigkeit doch kein Naturgesetz. Wie schnell wir Unrecht in Kauf nehmen, wenn es uns nutzt oder wenn es zu umständlich wäre, den Mund aufzumachen und ehrlich zu sein oder sich zu entschuldigen oder für andere Partei zu ergreifen. Das ist doch nichts, was wir nicht wüssten und wofür wir nichts können. Im Gegenteil: wir wissen, was wir tun und was wir besser lassen sollen. Wir tragen Verantwortung: für den Zustand unserer Beziehungen, ob wir uns Zeit für wichtige Gespräche nehmen, ob wir das Reden und das Verzeihen üben und dem Ehrgeiz und dem Stolz nicht so viel Futter geben. Wir tragen Mitverantwortung für die Stimmung in unserer Gesellschaft und wie wir mit unseren alten Eltern umgehen, aber auch mit unseren Kindern. Und ob wir vor allem unseren (unverdienten) Wohlstand sichern und unsere Dividenden. Oder ob wir endlich kleine Brötchen backen, von denen viele satt werden und leben können in unserer labilen Welt. Natürlich tragen wir dafür Verantwortung – wer denn sonst! Und natürlich wissen wir in aller Regel gut, was wir so tun!

Auch wenn wir schwer begreifen, wo sie herkommt, die zerstörerische Kraft der Sünde, und warum wir Menschen so sind: eingespannt zwischen Selbstüberschätzung und Selbstverachtung, und warum wir da so schwer herauskommen. Warum uns Gott so fremd geworden ist, dass wir es lernen müssen, dass wir zu ihm „Vater“ sagen. Wissen wir, woher diese Entfremdung kommt und warum es offenbar nötig ist, dass Gott in Jesus selber für uns betet, um Vergebung für uns betet? Und dass er dafür alles riskiert und schließlich sogar selbst dran glauben muss und stirbt für unsere Freiheit und für unser Leben? Jesus redet mit dem Vater über Dich und betet für Dich. So als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt!? Kannst Du Dir das vorstellen? Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!

III

Genauso ungewöhnlich ist das zweite Wort des sterbenden Jesus im Lukasevangelium. Der Schlusspunkt eines sehr seltsamen Gesprächs, das die drei Gekreuzigten über den Köpfen der anderen führen. Und bei dem ein Krimineller zum Vorbild wird durch seine Bitte: „Denke an mich, Jesus, wenn Du in Dein Reich kommst“ und Jesus antwortet: Wahrlich, ich sage Dir: heute wirst Du mit mir im Paradies sein (23,43). Manche haben das als ungerecht empfunden, dass dieser Verbrecher – es sagt ja selber, seine Todesstrafe sei gerecht – dass sich für ihn mit dieser einen Bitte und auf den letzten Drücker alles zum Guten wendet, dass er gerettet wird. Dabei war dieser Mann vielleicht noch nicht mal richtig gläubig, sondern hat nur den letzten Strohhalm ergriffen: könnte ja sein, dass dieser komische König wirklich eine Hintertüre offen hat. – Aber dann war es gar nicht die Hintertür, sondern der Haupteingang! Er war der erste, der mit Jesus diesen neuen Weg ging: Highway to Heaven! Denn Jesus hat ihn mitgenommen, diesen Verbrecher, als allerersten in sein Reich, ins Paradies … – in jene Wirklichkeit, die wir noch nicht denken können: das Leben wie sie sein soll in inniger Vertrautheit mit Gott.

Das also ist das Zweite, was Jesus sagt am Kreuz: dass es hier nicht nur zur Vergebung geht, sondern auch um die Tür, durch die das Leben neu beginnt. Denn das hier jetzt ist nur die Vorgeschichte, weil das Beste erst noch kommt. Es gibt diesen schönen Spielfilm „Marigold Hotel“, in dem ein völlig chaotischer und überforderter indischer Hotelmanager den schönen Satz zitiert: „am Ende wird alles gut; und wenn es noch nicht gut ist, ist es nicht das Ende“. Das gilt für alle, die sich Christus anvertrauen. Und es verändert unsere Perspektive und unser Leben hier. Gerade jetzt, in dieser schwierigen und ungewissen Zeit. Mal sehen, was noch kommt. Und wie erstaunlich und unglaublich, dass gerade hier am Kreuz so über das Leben gesprochen wird!

IV

Das dritte Wort Jesu am Kreuz, das letzte, ist wieder ein Gebet: Vater, in Deine Hände befehle ich meinen Geist (23,46)! So ist Jesus gestorben, mit einem Gebet auf den Lippen – aus dem Buch der Psalmen, aus der jüdischen Bibel. Und auch dieses letzte Wort gilt uns. Denn Jesus geht in seinem Sterben jenen Weg, den wir am Ende alle gehen müssen, wenn wir sterben irgendwann – später oder früher. Wie gut für alle, die dann auch solche Worte auf den Lippen haben und sich im Sterben Gott dem Vater anvertrauen. Aber es geht hier nicht vor allem um das Vorbild Jesu. Es geht um das Wunder, dass Gott in seinem Sohn auch diesen Weg ins Sterben geht – der einzige, der diesen Weg nicht beschreiten müsste. Dass Gott in Jesus diesen Weg auch geht, mit uns, in jenes dunkle Tal, wo uns sonst niemand beistehen kann. Da geht Jesus auch hin, bewusst, ins Sterben, in den Tod. Damit wir dort den zur Seite haben, der sich im Sterben wie im Leben auskennt und uns durchbringt. Und vielleicht betet Jesus dann, wenn wir es selber nicht mehr schaffen so für uns: Vater, in Deine Hände befehle ich seinen Geist!

V

Dazu ist Jesus gestorben: Damit wir einen haben, der uns aufhält in unserer Selbstzerstörung, der für uns um Vergebung bittet und uns vergibt. Und damit wir einen haben, der uns den Weg öffnet ins Leben, in die Freiheit und in die Gottesgegenwart. Und schließlich, wenn wir sterben müssen, dass er auch dann noch bei uns ist und uns in Gottes Hand befiehlt.

Und der Friede Gottes, der höher ist als wir begreifen, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.