Predigt zum Psalm 23

Bleiben im Haus des Herrn


I

Einen Stab hab ich uns hier heute mitgebracht, liebe Gemeinde, einen Hirtenstab. Bald zwanzig Jahre sind es her, seit ich ihn mir im Wald geholt und dann zurecht geschnitzt habe. Und seither steht er in meinem Arbeitszimmer, und ab und zu nehme ich ihn mit in die Grundschule – natürlich nicht zum Stockkampf oder zur Disziplinierung meiner lieben wilden Schüler. Sondern immer, wenn es um Hirtengeschichten geht aus der Bibel, oder um Wandergeschichten: also Abraham und Moses, aber auch Geschichten von Jesus und vom verlorenen Schaf oder eben: Psalm 23 – Der Herr ist mein Hirte …! Könnt ihr den schon, liebe Konifs? Denn das ist einer der vier Texte, die ihr am Ende auswendig können müsst.

Alle meine Grundschüler haben ihn gelernt: Psalm 23 – mit Bewegungen. Wir beten ihn auch hier im Gottesdienst ja immer wieder. Und an so vielen Krankenbetten und Sterbebetten habe ich diese alten starken Worte schon gebetet. Immer auch im Gottesdienst im Pflegeheim, jedes Mal, oder im Krankenhaus und immer wieder auf dem Friedhof, beim Abschied an einem Sarg oder vor einer Urne – auch im vergangenen Jahr. Gerade dort, im großen unvermeidlichen Ernstfall, im Angesicht des Todes, sind diese Worte stark. Und dreist, in Wahrheit eine Provokation und für uns wie ein viel zu großes Gewand. So wie der riesige Pullover, in dem meine Tochter Anna gestern zu Hause herumgelaufen ist. So ist es auch mit diesem Psalm. Er passt ewig nicht, ist viel zu groß, man kann darin versinken – und er wärmt am Ende doch.

Viele Psalmen in der Bibel, in jener umfangreichen Gebets-Sammlung im Alten Testament, – viele dieser Gebete bringen menschliche Erfahrungen mit Gott zur Sprache: Freude und Dankbarkeit, aber auch Müdigkeit im Glauben, Ratlosigkeit – was Menschen eben so mit Gott erleben. Doch dieser Psalm 23: „Der Herr ist mein Hirte“, dieser Psalm spricht nicht einfach Erfahrungen aus, sondern ist eher eine Vision oder Ausdruck einer Sehnsucht. Diese unglaublich starken Sätze kann man nicht als eigene Erfahrung nachsprechen, sondern eher um sich daran zu messen oder zum Ausprobieren. Der Psalm ist eine Art Trainingsplatz im Glauben, eine geistliche Übungsstrecke zum Aufbau von Gottvertrauen. Diese Sätze haben – wir werden sie gleich miteinander sprechen, aufrecht und im Stehen – diese wenigen Sätze haben so eine Wucht und beschreiben weniger unsere persönliche Lebenswirklichkeit als eine Zielvorstellung von Glauben und Vertrauen und Gelassenheit. Das klingt ja alles nur so harmlos: Schäfer-Romantik und „weil ich Jesu Schäflein bin“. Aber die Idylle täuscht. Es geht um eine Art Herausforderung, wohin wir wachsen sollen, eine heilige Provokation. Die Worte und die Sätze sind uns viel zu groß. Doch, wie gesagt: auch ein zu großer Pullover wärmt am Ende doch.

Lesen wir also miteinander; hören wir hin und beten wir miteinander diesen Psalm: im Gesangbuch unter der Nummer 710. Und wir stehen dazu auf.

Gebet:  „Gutes und Barmherzigkeit“ – die würden wir jetzt wirklich gerne hier erfahren. Rede mit uns, Du guter Hirte, Christus. Amen


II

Wir können tatsächlich, liebe Brüder und Schwestern, auch wenn es nur wenige Sätze sind, – dieses Gebet können wir nicht in seiner Tiefe ausloten. Allein der erste Satz! Den mit Verstand und bei Bewusstsein aussprechen, damit hab ich wohl ein Leben lang zu tun: der Herr ist mein Hirte! Das heißt nämlich: nicht irgendjemand kümmert sich um mich, sondern die stärkste Macht in diesem Universum, die höchste Autorität, der Schöpfer aller Dinge, der Ursprung allen Lebens, der Größte … ist mein Hirte! Gott kümmert sich um mich, also nicht nur so allgemein um seine große Herde, sondern persönlich um mich! – Gott kümmert sich um dich! Kannst Du das glauben? Kannst Du das beten? Denn warum sollte Gott sich gerade mit Dir beschäftigen? Mit Deinem Leben, mit Deiner Unruhe und mit Deinen unsortierten Gedanken, mit Deinen Erinnerungen und Deiner Einsamkeit und Deiner Unsicherheit vor dem, was kommt. Das ist doch vermessen! Kümmert Gott wirklich, was aus mir wird und wohin Du gehst? Aber der eigenen Unsicherheit entgegen und zum Trotz: Der Herr ist mein Hirte – sollt ihr mal sehen, ihr Ängste und Trauergeister, Du Schwermut und Du Furcht. Dennoch, und daran halt ich mich: der Herr, der Höchste, ist mein Hirte! Und wenn mir meine Zweifel zehnmal etwas anderes einreden, ich zieh mir immer wieder diese Worte an: Der Herr ist mein Hirte! Eigentlich reicht schon dieser erste Satz. Aber es geht weiter.

Mir wird nichts mangeln! Noch so ein Satz zum Zögern und Wundern – sag das mal so einfach: mir wird nichts fehlen; ich bin bestens versorgt! Ich muss mich gar nicht um mich selber sorgen! Denn ich empfange von Gott, was ich zum Leben brauche! Mir wird nichts mangeln … – haben wir vorhin etwas gedankenlos gebetet. Aber sag das jetzt noch mal, im Blick auf Dein tatsächliches und aktuelles Leben! Im Blick auf die Verluste und Abschiede, nicht nur von lieben Menschen, sondern auch von Hoffnungen und Lebensträumen. Kannst Du das immer noch so mitsprechen: Ich habe – dennoch – bei Gott, was ich zum Leben brauche?! Der Satz ist keine leichte Übung! Sich diese Worte anzueignen, im Nachsprechen als eine Lebenshaltung, trotz gegenteiliger Erfahrungen. – Es gilt; ich nehm das schon mal in Mund und sag es mir, voraus, obwohl ich noch gar nicht fasse: Der Herr ist mein Hirte; und darum habe ich, was ich zum Leben brauche …


III

Und zum Sterben? Denn das ist ja das Thema. Was ist am Ende? Wenn ich Menschen verloren habe und wenn mein Ende kommt? Wenn ich ins dunkle Tal muss, in die Schlucht der Todesschatten? Das ist nämlich wörtlich hier gemeint: die finstere Schlucht, in die jeder zuletzt allein gehen muss. Die enge Stelle, die dunkle Klamm, in der kein Mensch den anderen begleiten kann, in dieses Unbekannte, Dunkle … da bist Du bei mir? Ja, da bist Du bei mir! Da hältst Du mich und tröstest mich in dieser letzten Not. – Erstaunlich und bezeichnend und gewaltig – habt ihrs gemerkt? Dass sich gerade hier im Psalm die Rederichtung ändert, da, wo es wirklich eng und ernst wird: denn da wird nicht mehr über Gott geredet. Sondern direkt mit ihm: Und auch wenn ich ins finstere Tal muss – manchmal schon hier im Leben und dann im Sterben – fürchte ich mich nicht, weil Du bei mir bist! Weil Dein Stecken und Stab mich trösten …! – Da wird aus dem Reden über Gott: „der Herr ist mein Hirte …“ mit einem Mal das persönliche Rede mit Gott. Da wird aus dem Bekenntnis ein persönliches Gespräch, gerade hier! Not lehrt beten, sagt man. Und manche sagen es etwas geringschätzig, weil doch die richtig Gläubigen immer beten sollen. Aber wie gut, wenn in der höchsten Not aus meiner Furcht ein Gebet wird! Und wenn ich dann die Richtung kenne und weiß, an wen ich mich jetzt wenden kann. Mach aus der Todesnot, aber am besten aus jeder Not ein persönliches Gebet – so sieht es aus, mein Gott, hilf mir und zeig Dich mir. Oder mit diesen geliehenen Worten, immer wieder: der Herr ist mein Hirte!

Dein Stecken und Stab trösten mich. Der Hirtenstab, die Stütze, und der Stecken zur Verteidigung gegen die wilden Tiere. Hier wird es fast phantastisch, liebe Mit-Schafe und Böcke, Ziegen und Esel – ich bleibe mal bei diesem tierischen Bild, gehöre ja auch selbst dazu, im Bild gesprochen zu der großen Herde. Hier wird es abenteuerlich: Du bereitest mir einen Tisch – im Angesicht der Feinde! Wie bitte? Wer will sich denn niederlassen, ausruhen und stärken, sich zu Tisch setzen, im Angesicht der Feinde. Das wäre schon verwegen, unverfroren, frech, gewagt, verrückt – wer würde ernsthaft so was tun? Denk mal an Deine „Feinde“. Ich hoffe nicht, dass jemand unter uns, gefährliche Feinde hat. Aber es gibt manche Menschen und Situationen, Lebensgeschichten, die setzen uns zu; Bilder und Erfahrungen, Ängste und Verstrickungen, die uns nicht in Ruhe lassen, die uns vor sich hertreiben, uns in uns selber immer wieder in die Enge treiben und in die selbst gelegten Fallen laufen lassen. Wer wollte im Angesicht seiner inneren „Monster“ gemütlich frühstücken oder mal Kaffee trinken? Wer könnte das wagen, sich so etwas leisten? „Tobe, Welt und springe, ich steh hier und singe in gar sichrer Ruh“!  –  wer diesen Hirten hat!

Und dann muss ich dem „guten Leben“ nicht mehr ängstlich und sorgenvoll hinterherjagen. Dann muss ich den vermeintlichen Mitbewerbern um den schönsten, besten Kuchen nichts mehr abjagen. Weil in der Nähe dieses Hirten gilt: Gutes und Barmherzigkeit werde mir folgen mein Leben lang. Schluss mit dem Hetzen und dem Hinterherlaufen, mit dem Getrieben werden und der wilden Flucht nach vorne! Was für ein Bild: die Güte Gottes und seine großzügige Barmherzigkeit laufen mir nach, bleiben mir auf den Fersen und folgen mir auf dem Fuß. „Um mich habe ich mich ausgekümmert“ hat Nikolaus Zinzendorf einmal gesagt – immerhin ein gut betuchter Graf, und doch auch ängstlich und bekümmert. „Um mich habe ich mich ausgekümmert!“, weil ich einen guten Hirten habe, Jesus, aus dessen Hand mich nichts und niemand reißen kann (Joh 10). Und weil ich ein Zuhause habe, in dem ich erwartet werden und willkommen bin und aus dem mich niemand niemals mehr vertreibt – das Haus des Herrn (Jesus Christus), das Haus des Vaters (der nach mir Ausschau hält), die Lebensgemeinschaft mit ihm! Das macht uns heute hier so frei, so frei!

Zuletzt Psalm 23 noch mal im Sitzen beten … nachklingen lassen in der Stille


Und der Friede Gottes, der höher ist als wir begreifen, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen