Die Welt und uns mit Gottes Augen sehen

Liebe Leute in unserer Kirchengemeinde und drum herum,

auf der Fensterbank in meinem Arbeitszimmer sitzt ein Engel – federleicht und innen hohl, aus Pappmaché und rot bemalt. Meine Tochter hat ihn vor etlichen Jahren in der Schule geformt und mir geschenkt (er stammt aus der gleichen Produktionslinie wie die beiden Affen, die an meiner Deckenlampe hängen).

Er sitzt entspannt und lächelt freundlich und winkt mir zu mit seiner linken Hand (kommt vom Herzen). Füße hat er keine – jedenfalls sieht man sie nicht, oder er braucht sie nicht, weil er ja fliegen kann mit seinen goldenen Flügeln.Ich liebe diesen Engel! Nicht nur weil er so locker und gelassen dasitzt, sondern weil er mich an die verborgene Gegenwart Gottes erinnert. „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an“ – einer der beliebtesten Konfirmandenverse aus der Bibel, auch in diesem Jahr. Wir sehen die Hand vor Augen und die Nachrichten auf unserem Smartphone, die Sommerblumen nach dem Regen und die vielen Schwierigkeiten um uns herum.

Wie wäre es aber, wir könnten uns mit Gottes Augen sehen und könnten unsere Welt und unsere Lage mit seinen Augen sehen? Wie wäre es, wir könnten seine Gegenwart begreifen, die uns umgibt, seine verborgene und doch reale Wirklichkeit?

In der Bibel sind die Engel immer wieder Boten und Handlanger Gottes, aber auch Erinnerer an seine verborgene Gegenwart. In der östlichen Frömmigkeit der orthodoxen Kirchen haben die Bilder, die Ikonen, diese Aufgabe: dass sie uns sozusagen ein Fenster öffnen in die himmlische Wirklichkeit Gottes hinein, dass sie uns an den goldenen Hintergrund seiner Gegenwart erinnern. Vielleicht ist uns das ein bisschen zu wunderlich und fremd. Aber der Gedanke, dass wir vor Gottes Augen leben, dass er uns zuschaut und uns aufmerksam und liebevoll betrachtet; der Gedanke, dass wir uns sozusagen vor göttlichem Publikum auf der Bühne unseres Alltags bewegen – vielleicht verändert das auch unseren Blick auf unser Leben und verändert unser Leben. Weil wir uns denn gesehen und wahrgenommen wissen, weil wir erfahren, dass Gott wirklich Anteil nimmt und aus dem Zuschauerraum immer wieder auf unsere Bühne kommt.

Wie gut, wenn wir ihm bewusst Einblick geben in unser Herz und unsere Gedanken: „so sieht es gerade in mir aus, nicht wirklich aufgeräumt“. Und wie gut, wenn wir uns dann vor Gottes Augen bewähren, unsere Entscheidungen in seiner Gegenwart treffen, im Hören auf unser Gewissen und vor allem im Vertrauen auf seine Wirklichkeit und Wirksamkeit! – Dass uns aus dieser Perspektive Gelassenheit und Leichtigkeit erwachsen, vielleicht sogar Flügel (so wie dem roten Engel), wünsch ich uns allen herzlich!

Bleibt behütet und von Engeln auf Händen getragen (wenigstens ab und zu),

herzlich und im Namen des Kirchengemeinderats,
Ihr und euer Götz Häuser