Spricht Jesus zu ihr: Maria, Predigt an Ostern, Johannes 20,1-18

Es war finster so früh am Morgen – eine tiefe Finsternis. Denn es war nicht nur draußen dunkel, in dieser Stunde vor dem Morgengrauen. Sondern es war auch in mir drin, ein Morgen voller Grauen und dunkel in mir. Es war, als sei die Dunkelheit in mich hineingekrochen, als hätte sie mich von innen und außen verschluckt. Aber es war nicht mehr so schlimm. Es hatte fast etwas Beschützendes, weil ich mich in der Dunkelheit verbergen konnte und weil ich da die Welt in ihrer Härte und in ihrer Grausamkeit nicht mehr so deutlich sah. Es war so leer in meinem Kopf, und in meinem Herzen. Ich war erschöpft und konnte doch nicht schlafen, obwohl ich elend müde war. Wie gerne wär’ ich einfach eingeschlafen, abgetaucht und wenigstens für ein paar Stunden raus aus dieser Endlosschleife der Erinnerungen und der Fragen und der Bilder, die ich immer wieder vor mir sah von seinem Sterben und dem Tod, dieses sinnlose Sterben, dieser grauenvolle Tod. Wir standen ja dabei, betroffen und bestürzt, ohnmächtig. Wir standen dabei und taten nichts und konnten ja nichts tun. Und nun werde ich dieses dunkle Bild nicht mehr los. – Schlafen, endlich einschlafen und lange nicht mehr aufwachen. Oder endlich aufwachen aus diesem bösen Traum. Oder irgendwie begreifen, dass es wirklich aus war und vorbei.

 

Darum wollte ich auch noch mal hin. Es sehen, das Grab, vielleicht auch ihn noch einmal sehen und was von ihm geblieben war, um es zu fassen, zu begreifen, irgendwie. Gefährlich würde es nicht sein, es war zu früh. Es war um diese Zeit noch niemand unterwegs. Ich nahm mein Tuch und legte es um meine Schultern und zog es über meinen Kopf und tastete mich leise aus dem Haus. Im Schutz der Schatten lief ich durch die Gassen hinaus aus der Stadt. Das Laufen und die Kühle taten gut. Die tiefe Dunkelheit verschwamm allmählich in ein dunkles Grau. Da war der Galgenberg; die großen Balken ragten in den Himmel. Und dann war ich im Garten und bei dem Felsengrab. – Josefs Grab! Josef von Arimathäa, du wahrer Freund. Durch deinen Mut und deine Großzügigkeit hatte er wenigstens das bekommen, ein ordentliches Grab, ein edles Grab. – Doch was!? Was war das? Wo war Stein? Warum lag er nicht mehr davor? Es war doch niemand hier. Es konnte auch gar niemand hier gewesen sein, am Sabbat. Und niemand außer uns wusste Bescheid und kannte überhaupt das Grab. Was also war das? Was war passiert? Und warum ließen sie ihn nicht einmal in seinem Grab in Ruh? Wusste Petrus davon? Hatte er / hatten sie ihn etwa weggeholt?

 

Ich kehrte um und lief sofort, in aller Eile wieder in die Stadt. Es dämmerte als ich zu ihrem Versteck kam. Und sie ließen mich auch gleich herein. – Da stand er vor mir: Simon Petrus, ein gebrochener Mann, ein elender Feigling! Dabei hatte Jesus es genau vorher gesagt. Er hatte es gewusst. Er hatte alles vorher gewusst, was kommen würde  – und hatte nichts getan. Er hatte nichts getan, um zu entkommen oder sich zu wehren und seine Macht zu zeigen. Nein, er war – unbegreiflich – sehenden Auges in sein Verderben gelaufen. Allein! Denn niemand, nicht einer von uns, hat sich für ihn eingesetzt.

 

Petrus, sie haben das Grab geöffnet. Was ist da los? Weißt Du etwas? Was ist passiert? Wo ist er hin? – Petrus!? Petrus, hast Du mich gehört? Aber er mich einfach stehen und rannte los, dem andern hinterher, zum Grab. Was konnte der auf einmal laufen. Hätte er doch vor zwei Tagen solche Kraft gezeigt und solchen Einsatz für seinen Freund, als der noch lebte. Jetzt war es zu spät! – Als ich zum Grab kam, kam Petrus gerade dort wieder heraus. Ratlos, müde und stumm. Er ging an mir vorbei, beide. Sie ließen mich einfach stehen.

 

Da konnte ich nicht mehr. Es brach in diesem Augenblick einfach aus mir heraus. Ich weinte, endlich, und weinte hemmungslos. Denn nun hatten wir nichts mehr, nicht einmal mehr sein Grab. Aber warum nur? Und wer tut so etwas? Das macht doch keinen Sinn? Wer tut so etwas? – Etwa die beiden dort? Was sind das für Leute, die da sitzen? Und wo kommen die her? Und wie kommen diese beiden dort in diese Grabeshöhle? Ob sie was wissen? Oder ob sie’s selber waren? – Was? Warum ich weine? Weil er tot ist. Weil meine Hoffnung tot ist. Und weil ich nicht mehr weiß, wohin. Weil der mir fortgenommen wurde, der mich als erster und als einziger bisher gesehen und verstanden hat und mich auf eine Art gewürdigt hat, geheilt, die mich so tief berührt hat und verändert. Doch wo soll ich nun hin? Und wie soll ich mit meiner Geschichte jemals wieder aufrecht gehen?

 

So weinte ich und ließ den Tränen, meiner Wut und der Enttäuschung freien Lauf. Und ahnte nicht, dass er da längst schon bei stand. Denn als ich mich umwandte, stand er da – und ich dachte wirklich zunächst, es sei der Gärtner. Natürlich dummes Zeug, was soll ein Gärtner dort am frühen Morgen. Aber der Fremde stellte dieselbe Frage wie die seltsamen Gestalten da im Grab: „Frau, was weinst Du?“ und „wen suchst Du?“. – Was war hier eigentlich los? Wo kamen diese Leute alle her? Zumal um diese Uhrzeit? Und warum ließ man mich jetzt nicht einfach mal in Ruh?

 

Aber dann sagte der Fremde etwas, nur ein Wort. Nicht irgendein Wort. Er nannte meinen Namen: „Maria“! Er sah mich an und nannte mich beim Namen: „Maria“! Und wie er das sagte, traf es mich ins Herz und mir ging auf, mir ging endlich auf, wer hier wahrhaftig vor mir stand. Der Gärtner – Blödsinn – er war es! Es war verrückt; es war absurd, es war unglaublich, ganz unmöglich. Aber er war es eben doch! Denn niemand kannte mich so. Und niemand sonst sprach so meinen Namen aus, dass da in diesem Wort, in diesem Klang, in meinem Namen alles drin war, was ich wirklich war. Niemand sonst hätte mich mit meinem Namen so tief treffen und berühren können, ja schier umarmen. „Maria“ – da war ich gemeint, die Maria, die ich so gut kannte mit meinem Leben, meiner Geschichte, meiner Vergangenheit. Doch auch schon die Maria, die noch vor mir lag, die ich noch werden konnte, werden sollte. Maria – da war ich gemeint, mit meinen Eigenheiten und mit meiner Reizbarkeit, mit meiner Schönheit und Empfindsamkeit, mit meiner Furcht vor anderen Menschen und dem tiefen Misstrauen gegen andere und gegen mich selbst, und mit meinem tiefen Misstrauen gegen Gott, mit meiner Einsamkeit, die in Gesellschaft manchmal fast am größten war. – Das alles lag in meinem Namen und in dem Klang und in der Stimme Jesu, so viel Vertrautheit und Nähe und so viel Wahrheit und Autorität. Und zugleich diese große Verheißung, was noch werden sollte und aus mir werden könnte. Mein Name, der in seinem Mund eine Verheißung war, im Mund des Ewigen, des Schöpfers, der den Tod bezwungen hatte. Ich auf seiner Seite und in sein Leben aufgenommen, in dieses unbändige Leben, dem der Tod nichts anhaben konnte. Ich aufgenommen in das Leben, das die Gräber öffnet und die ganze Welt neu macht, so neu, dass uns dafür noch die Worte fehlen.

 

Aber ich musste an die Bibel denken und an die alten Worte aus dem Buch des Propheten Jesaja, wo Gott zu seinen Menschen sagt „so spricht der Herr, der dich geschaffen hat: fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich  habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein“ (Jes 43,1). Und so war es, nur ein Bibelspruch und ein Zitat, sondern von ihm selbst persönlich und aus seinem Mund. Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen, Maria, du bist mein!

 

Und dann, dann sandte er mich los, zu seinen Jüngern. Ich sollte ihnen diese Nachricht überbringen. Und das war ungewöhnlich damals, wo doch das Wort von Frauen gar nichts galt. Vor keinem Gericht der Welt hätte meine Aussage damals bestanden – egal, was ich gesagt hätte. Denn ich war eine Frau. Und Frauenworte galten nichts; wir hatten damals überhaupt kein Zeugenrecht! Aber das war typisch für ihn. Als hätte er am Durcheinanderschütteln solcher festen Regeln seine größte Freude. Er hat den Leuten damals manches zugemutet, den Männern und den Frauen auch.

 

So ging ich also los mit meiner Botschaft. Mit dieser ganz unglaublichen Nachricht, dass Jesus auferstanden war, dass er das Grab geöffnet hatte, dass er – wie angekündigt – dem Tod entkommen war und ihn bezwungen hatte, für sich selber und für uns! Denn – und so hatte Jesus noch nie zuvor geredet: sag das meinen Brüdern – meinen Brüdern, so hatte Jesus seine Jünger vorher nie genannt. Geh und sag das meinen Brüdern: ich gehe nun zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu eurem Vater! Das hatte er noch nie so gesagt. Und so hat Jesus über Nacht und aus dem Tod heraus am Ostermorgen seine Menschen adoptiert. Nicht mehr nur Freunde / Jünger / Nachfolger …, sondern seine Brüder und Schwestern! Er hatte uns in seine Familie aufgenommen, also in die Gemeinschaftsform und die Beziehung, die unauflöslich ist in unserer Welt.

 

Geh hin, und sag es meinen Brüdern, dass ich lebe! Und ich ging hin. Ist klar, sonst wärt ihr heute nämlich so nicht hier! Denn von da aus ging das raus in alle Welt. Ich war die erste, aber – und darum erzähl ich das heute: ich war nicht die letzte. Ich sag es immer noch und immer wieder euch den Brüdern und Schwestern. Hört es und glaubt es und lasst euch auch mit Namen rufen. Fürchtet euch nicht! Geht hin und behaltet es nicht für euch. Sagt es, laut oder leise, und widersprecht der Bosheit und der Dunkelheit und dem Tod in jeder Gestalt. Denn ihr seid nicht dem Schicksal ausgeliefert und der Logik von Schuld und Strafe. Ihr seid nicht mehr der Krankheit ausgeliefert und dem Tod – selbst wenn er euch am Ende kriegt; er darf euch nicht behalten. Ihr seid nicht mehr den Zwängen ausgeliefert, der Macht und Ohnmacht und der Lüge. Du gehörst nicht mehr dem Hass, dem Selbstmitleid, der Bitterkeit. Du gehörst ihm, dem auferstandenen Herrn. Das macht euch so gelassen, unabhängig, frei – aber auch gefährlich in dieser Welt. Denn ihr seid Widerstandskämpfer und -kämpferinnen! Wo stehst Du? Wofür setzt Du Dich ein? Und wem erzählst Du, dass der Tod die Macht verloren hat?

 

Hört sie euch zum Abschluss noch einmal an, meine Geschichte, so wie sie in der Bibel aufgeschrieben ist, im Johannesevangelium, Kapitel 20. Und wenn Du Hinhörst, hörst Du vielleicht Deinen Namen. Denn ich war nur die erste.