Gott wird ein Kind – Predigt über Lukas 2, 1-15

 

Christvesper 2017 / Johanneskirche Bühl

 

Dieses kleine Mädchen haben die meisten Betrachter unserer schönen Weihnachtskrippe bisher vermutlich übersehen. Man sieht sie nicht gleich auf den ersten Blick. Sie ist klein, steht ein wenig im Halbschatten und wird von den großen Figuren verdeckt. Im Kreis der einzigartigen und ein wenig extravaganten Tonfiguren ist sie eine der kleinsten und leichtesten. Aber sie steht der Krippe am nächsten und – natürlich abgesehen von Maria und Josef – so dicht wie dieses Kind ist niemand sonst beim Jesuskind. Die beiden verstehen sich, denk ich mir – sie sind in etwa auf Augenhöhe: die Kleine und der Säugling auf Marias Schoß. Mit großen Kinderaugen staunend und mit einem verwunderten Lächeln auf den Lippen steht dieses Mädchen an der Krippe. Nur heute Abend steht sie ausnahmsweise hier, zum ersten Mal so prominent und erhoben auf den Altar. Uns schaut sie heute Abend an. Und wahrscheinlich ist sie ein bisschen verlegen vor so vielen Leuten. Aber sie hat uns etwas Wichtiges zu sagen. Denn sie ist nicht dazu gemacht, das Figuren-Ensemble um die Krippe herum dekorativ zu erweitern. Sondern sie steht für etwas Entscheidendes. Nämlich für die erstaunliche Entscheidung Gottes, nicht einfach ein Mensch zu werden, sondern ein Menschenkind! Nicht als Erwachsener ist er in Erscheinung getreten oder als Halbwüchsiger, mit großem Getöse aus dem Off gesprungen und mit glitzerndem Konfettiregen auf der Weltbühne erschienen oder auch nur mit einem deutlichen und starken Auftritt. Sondern als Kind ist Gott gekommen, am Anfang noch viel kleiner als dieses Mädchen, unfähig zu laufen und zu sprechen, zahnlos, durstig und erschöpft, etwa 3000 Gramm schwer (drei Milchtüten) und blutverschmiert, mit einem abgeschnitten Nabelschnurstückchen unter der vermutlich nicht sehr reinlichen Windel! Das war nicht wirklich aufregend, eher gewöhnlich. Und keine antike Gottheit etwa bei den Griechen oder den Römern wäre jemals auf die Idee gekommen, sich derart ungünstig in Szene zu setzen: in einem primitiven Unterschlupf und ohne irgendeine Waffe, also ohne Macht und Schutz. Ohnehin hatten Kinder in der damaligen Gesellschaft keinen leichten Stand. Bei den Römern waren sie restlos den Erwachsenen ausgeliefert; der Vater entschied nach der Geburt über Leben und Tod, ob ein Kind angenommen oder verworfen wurde, vielleicht sogar versklavt oder verkauft. Bei den Juden war es besser. Aber dass Gott – und mit diesem Ursprung und Anspruch wird Jesus von Beginn an in den Erzählungen der Bibel gezeigt – dass Gott nicht nur ein Mensch wird, sondern tatsächlich ein Kind, das war und ist gelinde gesagt sehr ungewöhnlich!

 

Aber darum geht es. Gott wird nicht einfach Mensch. Sondern er wird gezielt und mit Ansage ein Kind! Ein neugeborenes und ein entsprechend unselbständiges und hilfloses Kind! Was das bedeutet, dem gehen wir heute nach. Und zwar – die Zahl passt zu meinen vier Kindern – in vier kurzen Denkanstößen. Und wenn am Ende einige unter uns ebenso mit großen Augen staunen wie dieses Kind – ihr müsst sie euch nachher mal anschauen, diese Augen. Wenn wir am Ende auch so ins Staunen geraten im Anblick des Jesuskinds …

 

 

Vier Anstöße zum Staunen also, nämlich darüber:

  • dass Gott so klein wird!
  • dass Gott sich entwickelt in diesem Menschenkind!
  • dass Gott die Machtansprüche auf den Kopf stellt!
  • und dass Gott so bezwingend liebevoll um uns wirbt! Dass Gott so klein wird. Dass der Größte sich das antut: neun Monate im Bauch seiner menschlichen Mutter verborgen, immerzu wachsen, Arme und Beine ausstrecken nach und nach, Lungenreifung und schon ganz früh hören, was Maria sagt und wie sie singt. Neun Monate – die hat Jesus, Gottes Sohn, nicht übersprungen. So viel Zeit muss sein, wie alle anderen Menschen auch, so wie wir alle auch. Und dann – vor zweitausend Jahren noch viel gefährdeter als heute bei uns: die Geburt, Hinausdrängen und hinaus getrieben werden aus dem warmen engen Leib in eine kalte weite Welt. Und von nun an selber atmen müssen und selber essen – dieser Durst von Anfang an, dieser unstillbare Durst nach Leben. Und von nun an eingebunden sein in eine Familie, auch wenn es damals bei Jesus eine Art Patchworkfamilie war: Mutter und Pflegevater und später einige Geschwister. Ein Netzwerk, ein Beziehungsgeflecht, das bleibend zu uns gehört, aus dem wir nicht herauskommen, dem wir fast alles verdanken, das uns mitunter einengt und behindert, in dem manche von uns bleibende Schäden erfahren, Zuweisungen – den Stammbaum hab ich mir nicht ausgesucht – und Verletzungen, übergangen und missachtet werden … All das Gute wie das Schwierige, dieses unentrinnbare Geflecht, diesen bergenden Schutzraum der Familie, die mich trägt; aber eben auch die Zwänge, mein Gesicht und meine Gestalt, mein Erbgut und so manche Altlasten. – All das hat Gott in Jesus Christus auch erfahren. Das, was uns im Leben ausmacht, was Menschen prägt und formt, manchmal auch verformt, hat Gott am eigenen Leib erfahren! Das wollte er kennenlernen und mit uns teilen. Keiner, der von oben herab sagt „ich versteh dich“, sondern, der es selbst erlebt hat und weiß, was es bedeutet. Dafür hat Gott sich eingeschränkt, dafür hat er sich klein gemacht und hat sich die Verstrickungen einbinden lassen, schöne und schuldbeladene Verbindungen, schwere Erfahrungen und gewiss auch wunderbare Momente. Da wollte er hin, in meinen Lebensraum, in deine Lebensgeschichte, aber auf Augenhöhe und darum ohne alle überirdische Macht und Größe und Herrlichkeit. Darum ist Gott Mensch geworden, ein Kind, weil er sich nach Dir sehnt und um Dein wirkliches Leben zu teilen!III Weil uns – und das ist der dritte Impuls: weil uns – warum auch immer – die eigene Macht und unsere Selbstbehauptung wichtiger geworden sind als die Beziehungen, in denen wir leben, auch und vor allem die Beziehung zu Gott. Und eben das stellt Gott heraus in seinem waghalsigen Entschluss, ein Mensch zu werden. Er stellt unser zerstörerisches Machtgebaren bloß, dieses Gehabe und Aufplustern, das wir alle gut drauf haben auf unterschiedliche Weise, unsere Überheblichkeit und Rechthaberei, unsere Kleinkariertheit, das gewaltsame Draufhauen und Brüllen oder das feine stille Strafen, diese vielen Spielarten, in denen wir uns und einander belauern und belasten und beschweren. „America first“ – da hat nur einer unverblümt und unverschämt ausgesprochen, was die anderen auch im Stillen denken und praktizieren; „America“ ist eine Variable, ein Platzhalter für viele! Klar wird es einsam an der Spitze oder auch im tiefen Keller, in den ich mich zurückziehe. Und klar ist es keine Lösung, die andern einfach machen zu lassen – davon werden unsere gestörten Beziehungen nicht heil. – Und Gott? Nimmt das todernst und nimmt es darum mit Humor und stellt unser System, das so viel Einsamkeit und Verlorenheit produziert – stellt Gott zum Weihnachtsfest uns völlig auf den Kopf! Denn wie sollen wir das sonst verstehen, dass Gott ein Mensch wird, dass der Größte und Mächtigste ein schutzbedürftiges Kind wird; dass der Gewaltige und Ewige ein verletzlicher und sterblicher Mensch wird!? Damit überrascht und entlarvt er uns alle. Damit entwaffnet er uns – genial – runter mit dem Schwert und runter mit dem Schild. Damit befreit Gott uns alle, damit bezwingt er uns, durch dieses Kind.V
  • Und der Friede Gottes …
  • Denn das ist der letzte Impuls! Dass Gott in Jesus Christus, in diesem Kind im Stall in Bethlehem, dass Gott hier so innig und so liebevoll und so bezwingend menschlich um uns wirbt. Denn wer kann einem Kind schon widerstehen? Wer wollte nicht, wenn er ein Baby sieht, es in die Arme schließen, tragen wiegen, schützen? Und wer müsste nicht auch lächeln, wenn ihn ein Kind anstrahlt, zahnlos und unverstellt? Gott haut nicht drauf, auch wenn er’s könnte und wir es manchmal gerne hätten und nicht begreifen, warum er es nicht tut. Aber Weihnachten war schließlich erst der Anfang. Und da haut Gott nicht drauf, der Herr der Welt. Sondern er schaut mich durch die Augen dieses Kindes an. Er berührt mich durch seine Bedürftigkeit. Er bezwingt mich durch seine unverstellte Liebe, durch seine Zuwendung zu mir, durch seine Verneigung vor dem Menschen, durch seinen starken und entwaffnenden Humor und durch die Ehrfurcht und das Staunen darüber, dass der Gewaltige mir so begegnet, dass Gott Dir so begegnet – in einem neugeborenen Kind. Das willst Du aufheben und in die Arme nehmen. Und wirst gerade so selbst aufgehoben und umarmt von Gott in Jesus Christus! Was das bedeutet, dass Gott Dich durch die Augen dieses Kindes anschaut, durch Jesus Christus? – Lass Dich anschauen bis in die Tiefe Deines Lebens. Lass Dich anrühren von Gottes unbändiger Liebe, von seiner Freude über Dich!
  • IV
  • Doch mit dieser Entscheidung Gottes ist etwas Zweites, Ungewöhnliches verbunden. Gott hat sich eingelassen auf eine menschliche Lebensgeschichte und damit auf eine Lern- und Entwicklungsgeschichte. Das ist ein seltsamer Gedanke, dass Gott in Jesus Christus etwas Neues gewagt und „gelernt“ hat. Gott, der eine Grenze überschreitet und nicht nur seine Menschen studiert und betrachtet, sondern einer von ihnen wird. Ist Gott im besten Sinne neugierig? Verändert er sich? Entwickelt er sich und ist er selber noch nicht fertig? Ich formuliere das vorsichtig als Fragen. Weil es zu unserem Gottesbild im Allgemeinen nicht so wirklich passt. Und doch wird in der Weihnachtsgeschichte deutlich und in der Lebensgeschichte Jesu und in seiner Todes- und Auferstehungsgeschichte, dass Gott nicht der philosophisch gedachte „unbewegte Beweger“ ist. Gott ist keine überirdische und weit über allen Alltäglichkeiten schwebende oberste Instanz. Sondern Gott ist in Bewegung und Erregung. Gott riskiert was und setzt sich selbst aufs Spiel. Er setzt sein Leben aufs Spiel. Und handelt dabei leidenschaftlich. Er gibt sich ohne Rückhalt hin und wagt den Grenzübertritt vom Schöpfer zum Geschöpf. Allerdings nicht so wie ein Wissenschaftler aus Interesse an Erkenntnis. Sondern aus Sehnsucht nach uns Menschen, aus Liebe. Um uns zu sich zu ziehen in seine Gemeinschaft und zurück in das Leben, zu dem wir eigentlich bestimmt waren und das wir doch verlassen und verloren haben.
  • II
  • Viermal Kinderüberraschung sozusagen. Aber wahrlich kein Kinderkram!