Es ist vollbracht- Predigt an Karfreitag, Johannes 19, 1-30

Eine Geschichte wie ein finsteres Gemälde! Schwere Schatten und dunkle Farben, triste Figuren und verzerrte Gesichter. Und doch – wenn Du genau hinsieht und die gesamte Bilderfolge des Johannesevangeliums nicht aus dem Blick verlierst, dann siehst du wie es da und dort auf dem Gemälde leuchtet. Ein goldener Hintergrund schimmert hervor mit Purpur, Königsblau und hellen bunten Farben – aber darüber eben jene dunkle Farbschicht in schwarz-grau und mit schemenhaften groben Gestalten. „Seht!“ ruft ausgerechnet dieser feige und verblendete Pilatus! Dabei kann keiner hier in der Geschichte sehen, was da in dieser Dunkelheit wirklich geschieht.

 

Da drüben an der Wand haben unsere Kinder aus der Bibelbande, aus unserem Kindergottesdienst, einige Bilder gestaltet: Szenen und Geschichten aus dem Leben Jesu im Johannesevangelium. Das vorletzte dort hinten wird heute vervollständigt, der graue Hügel Golgatha draußen vor der Stadt Jerusalem.

 

Seht! Wir folgen heute dieser Aufforderung. Und schauen genauer hin auf dieses dunkle Bild, das uns vor Ohren und Augen gemalt wurde und wir schauen aus – soweit wir ihn erfassen können – nach dem verborgenen goldenen Glanz.

 

II

Seht, welch ein Mensch! Mit diesem Hinweis hatte Pilatus versucht, den offenkundig falschen und zu kurzen Prozess gegen Jesus umzulenken und diesen unerwünschten Häftling lebend loszuwerden. Seht ihn euch an, euren jämmerlichen Judenkönig wie er da vor euch steht: verraten und verlassen und verleugnet von den engsten Freunden, verklagt (zu unrecht) und verurteilt (ohne Schuld), von den Soldaten zusammengeschlagen, verspottet und gequält und zuletzt aller Würde beraubt nackt auf ein Kreuz gespannt, zur Schau gestellt auf Golgatha, dem Galgenhügel bei Jerusalem. – Seht, welch ein Mensch, zerrissen im Spannungsfeld der weltlichen und religiösen Macht. – Schaut hin! Und es ist gut, wenn euch das nahegeht, dieser geschundene Mensch. Denn viele haben sich längst an die vielen Bilder der Gewalt gewöhnt. Was wir täglich so sehen und aushalten müssen: im Fernsehen, in der Zeitung und im Internet und immer wieder auch persönlich beobachtet oder selbst erlebt: Tod und Trauer und Gewalt, Elend und Schmerzen, Feigheit und Ungerechtigkeit. Wer mag das sehen? Wer schaut da hin? Die meisten wenden sich ab, weil solche dunklen Bilder uns beschweren: das Kreuz und all das Elend, für das dieser Gekreuzigte steht. Lieber nicht hinschauen. Und besser sich damit nicht sehen lassen. Das sagen sogar manche in der Kirche: Hängt endlich dieses Kreuz ab, dieses abstoßende Bild, diesen geschundenen Jesus. Den kann man doch keinem zumuten. Stellt lieber die heiteren Bilder von Jesus heraus: etwa die Krippe mit dem Kind, zumal für viele Menschen sowieso das Weihnachtsfest zum größten Feiertag der Christenheit geworden ist.

 

Aber wer so redet, wird dadurch die Dunkelheit nicht los. Es wäre eine trügerische Flucht vor der Wirklichkeit und vor der Welt, in der wir leben. Denn das Kreuz und die Geschichte von dem Unrecht und den Grausamkeiten, die Jesus ertragen hat; – sein Kreuz Jesu steht für den realistischen Blick auf unsere Welt. Seht, welch ein Mensch! Seht ihn euch an! Und seht euch um! Und seht euch selber an! Macht euch nichts vor. Stellt euch der Dunkelheit dieser Welt. In diesen Tagen kommt ein Film in die Kinos, der die Schönheit unserer Welt und unserer Erde zeigt, mit gewaltigen, eindrücklichen Bildern. Aber doch eben vor dem Hintergrund der großen Gefährdung und der – so erleben es viele – kaum aufzuhaltenden Zerstörung, deren Kraft und Wucht und Geschwindigkeit uns schier überfordert. Kann man sich dem Raubbau wirklich noch entgegenstellen – so viele Menschen, so viele Mächte, so viel Verschwendung, so viel Gier. So viel Geld und so viel Gier. Und all die Auseinandersetzungen, die Bürgerkriege, die Verflechtungen der Macht, die Stellvertreter-Konflikte, etwa in Syrien, in denen andere Menschen und Völker zwischen den Interessen der Global Player zerrieben werden. Die vergifteten Agenten und vergifteten Beziehungen. Die Kriege und bewaffneten Konflikte haben weltweit zugenommen und werden auch mit deutschen Waffen geführt. Und kein Wunder ist die Welt in Bewegung, sind viele Menschen in Bewegung, suchen nach Auswegen und nehmen Todesgefahr und Einsamkeit in Kauf, um zu fliehen und zu leben, irgendwo und irgendwie besser als bisher. Dabei haben wir in unserem Land immer noch selbst mit den Folgen des letzten Krieges zu tun: die Brüche in vielen Familien, die vielen Kinder, die ohne Vater aufgewachsen sind. Ich spüre manches der zerstörerischen Kräfte der Vergangenheit in der Geschichte meiner Eltern und meiner Familie. Und heute unser Kleinkrieg im Alltäglichen: in den Ehen, in der Nachbarschaft, in unserer Stadt; das Reden über- statt endlich miteinander und die Wunden, die uns andere schlagen und wir selber anderen auch. Manche Verletzungen und Narben brechen immer wieder auf. Die Aussichtslosigkeit in einer Krankheit. Der Tod eines geliebten Menschen. Die Einsamkeit, der ich so schwer entrinnen und die ich andern kaum erklären kann. Bis hin zur Einsamkeit des Todes, die jeder von uns früher oder später zu bestehen hat. – Seht, welch ein Mensch! Seht ihn euch an: den Menschen, den zerbrechlichen, zerstörerischen Menschen. Dafür steht Jesus Christus. Das stellt er dar. Das nimmt er an. Das zieht er auf sich. Das stellt er hier vor aller Augen aus. Und darum schauen wir uns das seit fast zweitausend Jahren an, weil hier alles vorkommt: die Großmächte (Rom) und die Gewalt (die Soldaten), die religiöse Verblendung und wie man andere opfert, um sich selbst zu schützen, und wie man sich mit Unrecht Recht verschaffen will. Die Feigheit, die Einsamkeit, die Zuschauer und Gaffer, das Geschwätz, der Schmerz, der Tod. Das steht für uns und unsere Welt – und mitten drin: Gottes Sohn, Gott selbst.

 

III

Denn diesem Hinweis des Pilatus, diesem Aufruf: „seht, welch ein Mensch!“ stellt dieser Mensch, stelle Jesus entgegen: „seht, welch ein Gott!“. Das sind die hellen Stellen, die übermalten goldenen Töne, die verborgenen Hinweise in dem Karfreitagsbild aus dem Johannesevangelium. Weil nämlich diese Geschichte kein Unfall war, kein dummes Schicksal, kein Versehen, nicht das bedauerliche Ende eines Weltverbesserers und eindrucksvollen Lehrers. Das ist nicht einfach leider so passiert, dass Jesus dummerweise den religiösen Führern seines Volkes in die Hände fiel, die ihm nicht wohlgesonnenen waren und ihn den Römern überstellten. So nach dem Motto: wäre er bloß nicht nach Jerusalem gegangen. – Doch genau das ist es nicht! Kein anderes Evangelium gewährt uns einen so tiefen Einblick in die Hintergründe der Ereignisse von Jesu Leiden und Sterben. Das Johannesevangelium stellt eindrücklich heraus, dass die Jesu Passion nichts mit Passivität zu tun hat, als wäre Jesus nur ein Getriebener und Geschlagener. Nein, Jesus wehrt sich nicht, weil es das so will! Er schweigt zu den haltlosen Anschuldigungen und versucht kaum, die Vorwürfe zu widerlegen und erklärt sich nicht, weil das zu seinem Plan und Weg gehört. Und auch den Hauptgrund der Anklage gegen ihn – neben dem haltlosen Gerede, Jesus habe zum Kampf gegen die römische Besatzungsmacht gerufen oder zur Zerstörung des Tempels aufgefordert. Neben diesen vorgeschobenen Anklagen wird auch der eigentliche Vorwurf gegen Jesus, nämlich der Vorwurf der Gotteslästerung – er habe sich selbst zu Gottes Sohn gemacht. Auch hier ist Jesus nicht bemüht, dies näher darzulegen und sich zu verteidigen, um so das Todesurteil doch noch abzuwenden. Jesus wehrt sich nicht!

 

Im Gegenteil: Er geht bewusst, gezielt und aufrecht auf sein Ende zu. Er lässt das Leid nicht einfach über sich ergehen und fügt sich in das Unabwendbare. Nein Jesus geht erhobenen Hauptes und – so sieht es aus – planvoll diesen Weg. Er zeigt den religiösen Führern und dem römischen Statthalter von Jerusalem, aber auch dem Volk, dass er wahrhaftig ist, was man ihm vorwirft: ein König, mit seiner schmerzhaften Dornenkrone und dem Purpurmantel. Er ist wirklich der König der Juden wie es in drei Sprachen schriftlich proklamiert wird. Er ist der König der Juden und in Wahrheit der König der Könige. Er ist Gott, der Herr! Und darum handelt er hier eigenständig und behält das Heft in der Hand. Er nimmt sein Kreuz und trägt es eigenhändig auf den Richtplatz vor der Stadt. Und wird dort – so wie er es mehrfach angekündigt hat – erhöht. Er besteigt gleichsam den Thron, am Kreuz. Und kümmert sich dann noch vom Kreuz herab um seine Mutter, vertraut sie seinem Jünger an, dem Zeugen seines Lebens und Sterbens, an den sie sich in Zukunft halten soll. Und dann spricht Jesus – der der Frau am Jakobsbrunnen Wasser des Lebens verheißen hat – er ruft zuletzt, um die Weissagung des Alten Bundes zu erfüllen und zu zeigen: das war von langer Hand geplant – ruft Jesus: mich dürstet und nimmt den Essig, den man ihm daraufhin reicht. Und neigt sein Haupt und spricht zuletzt: es ist vollbracht, und stirbt.

 

 

IV

Seht, welch ein Gott! Der seinen Glanz und seine Herrlichkeit dem Dunkel dieser Welt aussetzt. Der seine Schönheit, seine Hoheit dunkel übermalen lässt von uns zerstörerischen Dilettanten. Seht, welch ein Gott, der sich der Bosheit seiner Menschen und dem unverschuldeten Elend ausliefert! Und der vollbringt, was niemand sonst vollbringen kann.

 

Warum er die Not seiner Menschen nicht einfach so beseitigt hat in seiner königlichen Macht und Autorität? Warum er das Elend dieser gefallenen Welt nicht einfach so aus der Welt schafft? – Weil er dann uns aus der Welt schaffen müsste. Weil wir alle nicht nur Opfer, sondern immer auch Täter sind, weil wir alle nicht nur Böses erleiden, sondern selbst auch Böses tun. Darum hat Gott die Not nicht einfach aus der Welt geschafft – es hätte unser Leben gekostet. Sondern er hat einen anderen Weg gewählt und hat nicht unser, sondern hat sein Leben in den Tod gegeben hat, um uns in sich zu bergen, wie ein Vater, der im brennenden Haus sein Kind an sich drückt, in seinem Mantel birgt und durch die Flammen trägt und dabei freilich selber Feuer fängt. So hat Gott uns in seinem Arm geborgen, im Leiden und im Sterben seines Sohnes und hat uns durchgetragen durch alle Not und Schuld und durch den Tod – damit wir leben!

 

Es ist vollbracht, was kein Mensch vollbringen kann. Es ist geschehen, und es ist nichts hinzuzufügen. Es ist genug, und es ist gut! Wenn wir das Bild vom Anfang nun noch auf uns beziehen: die dunklen tristen toten Farben auf der Leinwand unseres Lebens. Gott hat sich nicht mit einem goldenen Glanz einfach nur übermalt, mit hellen Tönen überpinselt. Nein, er hat in Jesus Christus getan, was kein Künstler und kein noch so Kreativer kann: er hat unter die dunklen Farben unseres Lebens, unter das elende Grau, seinen Glanz gemalt und sozusagen unter unser Leben geschoben. – Halte ihm das Bild Deines Lebens hin und schau es Dir mit ihm noch einmal an, wie er es aufhabt und neu den Glanz seiner Liebe darunter legt und Dich mit dieser Liebe trägt, ins Leben. Es ist vollbracht!

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als wir begreifen, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen