Denn sie wissen nicht, was sie tun

Predigt über Lk 23,33-46

Karfreitag 2017 / Johanneskirche Bühl

Und jetzt? Jetzt sitzen wir in unserer Kirche und schauen auf die ausgelöschte Kerze und den Hauch, der sich verflüchtigt und schauen auf das große leere Kreuz hier an der Backsteinwand. Und würden gern zum wiederholten Male wissen: Warum? Warum das alles so geschehen ist und warum diese Geschichte immer noch erzählt wird. Was ist das mit Karfreitag? Warum ist Jesus gestorben, so unverdient, so schmerzhaft, so allein? Wozu das alles und warum so?

 

Auf diese Fragen kann uns niemand eine Antwort geben, nur Jesus selbst. Und darum hören wir heute vor allem auf ihn. Denn er hat dort nicht stumm gelitten. Sondern Jesus hat am Kreuz geredet und gebetet und geschrien. Und seine Worte geben Aufschluss. Sie führen uns mitten hinein in das Geschehen und bringen uns zugleich auf eine andere Ebene. Wie von oben herab, wie durch die Kamera einer Drohne, die über dem Geschehen kreist, erscheint durch seine Worte die grausige Geschichte in einer neuen Perspektive. Drei Sätze werden uns im Lukasevangelium überliefert. Der erste und der letzte Satz sind jeweils ein Gebet: Gespräche mit Gott, dem Vater. Der zweite Satz gehört in das völlig schräge Streit-, Spott- und Trostgespräch der drei Todeskandidaten. Hören wir hin.

 

II

Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun – der erste Satz am Kreuz. Da war Jesus von seinen engsten Weggefährten verraten worden, von seinen besten Freunden und Vertrauten verleugnet und verlassen worden. – Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Die religiöse Elite, kluge Köpfe, ernsthaft Gläubige hatten Jesus einhellig zum Gotteslästerer erklärt und zur Vollstreckung der Todesstrafe ausgeliefert an die feindliche Besatzung, ihren eigenen Mann. – Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Da hatte der römische Machthaber Pilatus den Weg des geringsten Widerstands gewählt und sich dazu mit seinem alten Feind verbündet, um einen offenkundig Unschuldigen feige zu entsorgen – den Mörder und Verbrecher ließ er laufen. – Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Da hatten die Soldaten ihn gequält und gedemütigt – ein unnötiger, menschenverachtender Zeitvertreib. – Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Und nachdem die Menge anfangs noch für Jesus ihre bunten Gewänder auf den Weg gebreitet hatten – Hosianna, König – hatten sie ihm nun das letzte Stückchen Stoff und Schutz genommen und ihn bloßgestellt, im Todeskampf nackt und jeder Würde beraubt. – Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Das Lästern, Spotten, Giften, Johlen, Nachtreten auf einen, der sowie so am Boden liegt, aufs Kreuz gelegt. Nicht mal mehr jetzt ein Funken Menschlichkeit – oder ist gerade diese Häme typisch menschlich? – Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!

 

O doch, würde ich gerne rufen. Wir wissen meistens sehr wohl, was wir so tun. Die Bosheit, Feigheit, Trägheit und das Lästern kommen nicht wie eine heftige Naturgewalt plötzlich über uns. Wir wissen schon in aller Regel, was wir tun und was wir lassen sollten. Wir tragen Verantwortung: für unser Leben, für den Zustand unserer Beziehungen und für die Wetterlage in der Familie und auch für die Großwetterlage in der Welt.

 

Kennt jemand noch den Film, den letzten mit James Dean, der diesen Titel trägt: „Denn sie wissen nicht, was sie tun“? Zwei Siebzehnjährige liefern sich in diesem Film ein mörderisches Autorennen, eine wahnsinnige Mutprobe: Mit gestohlenen Autos rasen sie an einer Steilküste auf den Abgrund zu, und wer als letzter rausspringt, hat gewonnen. Die beiden Wagen fahren an und rasen immer schneller auf die Klippe zu; im letzten Augenblick springt Jim heraus (James Dean), doch Buzz, der andere, schafft’s nicht mehr und stürzt mit 180 Sachen in den Tod. Jim wird nach diesem Unglück seines Lebens nicht mehr froh, muss fliehen, sich verstecken, und am Ende wird sein treuster Freund – als Jim ihn retten will, erschossen. „Denn sie wissen nicht, was sie tun“! James Dean hat den Kino-Start des Films nicht mehr erlebt. Kurz zuvor kam er ums Leben, bei einem Autounfall. Wusste er, was er tat?

 

Bezeichnend, dass Jesus hier nicht sagt: sie können nichts dafür. Denn aus der Verantwortung entlässt er uns nicht. Wir sind verantwortlich – einzelne mehr, andere weniger – sind Menschen verantwortlich für den Hunger in Westafrika. Wenn wir es wollten, könnten alle satt werden in unserer Welt. Wir sind verantwortlich für die Waffenexporte und für die Opfer an den Gott des Geizes und des Profits. Wir sind verantwortlich für unsere Machtspiele, auch für die kleinen, fiesen in der Partnerschaft, die Rechthaberei mit den Kindern oder mit den Eltern. Wir sind verantwortlich! – Auch wenn wir kaum die Tiefe begreifen und wo das herkommt, die zerstörerische Kraft der Sünde und warum wir Menschen so sind, im Spannungsfeld von Stolz und Bitterkeit und unserer Selbstverachtung, warum wir da nicht wirklich rauskommen? Und warum uns Gott so fremd geworden ist, so fern, dass wir nicht einfach „Vater“ sagen können? Wissen wir, woher das kommt, was wir da alle in uns tragen? – Wir wissen es nicht, wie tief der Abgrund ist, auf den wir zurasen in unserem gestohlenen Wagen.

 

Darum ist Jesus am Kreuz gestorben, um sich uns in den Weg zu werfen und uns aufzuhalten. Und er hat sich dabei von uns überfahren lassen, damit wir nicht am Ende in den Abgrund stürzen. Darum ist Jesus am Kreuz gestorben, der Gottessohn, um für uns Gott zu bitten: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.

III

Und wissen oft nicht, was sie reden. Wie sie da stehen unter dem Kreuz und spotten über Jesus. Sie hatten ja keine Ahnung, dass Jesus gerade in seiner Hilflosigkeit uns weitaus mehr geholfen hat las irgendjemand sonst. Und dass gerade ein Verbrecher das am ehesten verstanden hat, einer der am Nachbarkreuz hing und mit Jesus hingerichtet wurde, da ist schon verrückt. Ein Krimineller wird zum Vorbild durch seine Bitte: „Denke an mich, Jesus, wenn Du in Dein Reich kommst“. Und Jesus antwortet – das ist sein zweites Wort am Kreuz im Lukasevangelium: Wahrlich, ich sage Dir: heute wirst Du mit mir im Paradies sein (23,43). Manche haben das als ungerecht empfunden, dass am Ende nach einem gescheiterten Leben – er sagt ja von sich selber, die Todesstrafe ist gerecht – dass sich mit diesem einen Satz die Lage wendet, dass er gerettet wird. Dabei ist dieser Mann vielleicht noch nicht mal richtig fromm gewesen und auch am Kreuz nicht fromm geworden, sondern hat den letzten Strohhalm halt ergriffen, der sich bot: wer weiß, ob dieser komische König mit den Dornen im Haar nicht doch noch eine Hintertüre offen hat. – Und dann war es keine Hintertüre, sondern der Haupteingang! Er war der erste, der den neuen Weg beschritt: Highway to Heaven! Denn Jesus hat ihn mitgenommen, als den ersten. Den rechtskräftig verurteilten Verbrecher hat Jesus mitgenommen als allerersten in sein Reich, in den Himmel, ins Paradies … – Wie wir halt ahnungslos von jener Wirklichkeit reden, die wir nicht denken können und von der wir darum manchmal meinen, dass es sie nicht gibt: den Ort, an dem alles gut ist, das Leben so wie sie sein soll in inniger Vertrautheit mit Jesus, in Gemeinschaft mit Gott dem Vater. Da, wo Jesus ist, da ist dieser Ort, das Paradies – und wenn’s am Kreuz ist und in höchster Todesnot.

 

Das also ist das Zweite, was uns Jesus sagt, warum er da am Kreuz gestorben ist: nicht nur zur Vergebung unserer Schuld, damit das alte abgewickelt wird. Sondern auch, um uns – jetzt schon – eine neue Tür zu öffnen, weil mit ihm das Leben neu und überhaupt erst richtig beginnt. Das hier, bisher, und was noch kommt, ist nur die Vorgeschichte.

 

IV

Das dritte Wort schließlich, das letzte Wort Jesu am Kreuz, ist wieder ein Gebet: Vater, in Deine Hände befehle ich meinen Geist (23,46)! So ist Jesus gestorben, mit einem Gebet auf den Lippen – aus dem Buch der Psalmen, aus der jüdischen Bibel. Und auch dieses letzte Wort gilt uns. Denn Jesus geht hier jenen Weg, den wir am Ende alle gehen müssen, wenn wir gehen müssen, wenn wir sterben irgendwann – vielleicht schon bald. Und dabei kommt es nicht auf Jesu Vorbild an, dass wir am Ende auch am besten solche Worte auf den Lippen haben und uns im Sterben Gott dem Vater anvertrauen. Nein, es geht nicht um das nicht das Vorbild hier, sondern um das Wunder, dass Gottes Sohn auch diesen Weg ins Sterben geht – der einzige, der diesen Weg nicht hätte beschreiten müsste. Dass Gott in Jesus diesen Weg auch geht, mit uns, in jenes dunkle Tal, wo uns sonst niemand anders beistehen kann. Da geht Jesus auch hin, bewusst, ins Sterben, in den Tod. Damit wir dort nie alleine sind, sondern den zur Seite, der sich dort auskennt und uns durchbringt. Und vielleicht betet Jesus dann, wenn wir es selber nicht mehr schaffen so für uns: Vater, in Deine Hände befehle ich seinen Geist!

 

V

Dazu ist Jesus gestorben: Damit wir einen haben, der uns aufhält in unserer Selbstzerstörung und um Vergebung bittet für uns. Und damit wir einen haben, der uns den Weg öffnet ins Weite und in die Gottesgegenwart. Und schließlich, wenn wir sterben müssen, dass er auch dann noch bei uns ist und uns in Gottes Hand befiehlt. Dazu ist Jesus gestorben.

 

Und der Friede Gottes …